Gutachten zu den Rechten von den Fahrgästen bei der Bahn
Gutachten zu den Rechten von den Fahrgästen bei der Bahn
Das vorliegende Rechtsgutachten befasst sich mit der Frage, ob der Bund verpflichtet ist mehr dafür zu tun, dass Menschen mit Behinderungen die Eisenbahnen gleichberechtigt und ohne Benachteiligungen nutzen können. Hierfür setzt es sich auch damit auseinander, wie die Situation für Menschen mit Behinderungen, die die Eisenbahnen heute nutzen, zu bewerten ist.
Liebe Interessierte,
Ich bin Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Räumliche Mobilität ist eine Grundvoraussetzung für echte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sei es, um zur Arbeit zu kommen, Dienstreisen antreten zu können, Urlaub zu machen oder Freunde und Bekannte zu besuchen. Ganz normaler Alltag, den Menschen mit Behinderungen ganz selbstverständlich genauso leben wollen, wie alle anderen auch.
Faktisch sind Menschen mit Behinderungen jedoch vor zahlreiche Hürden gestellt, am Arbeitsplatz, beim Einkaufen, beim Kinobesuch oder im Restaurant. Und auch bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen. Als Rollstuhlfahrer*in ist es faktisch unmöglich, spontan und selbstbestimmt eine Reise anzutreten: Zahlreiche Bahnhöfe sind nicht barrierefrei, Hublifte benötigen Servicepersonal zur Bedienung - das aber nur zu bestimmten Zeiten verfügbar ist. Auch Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen haben große Probleme entlang der Bahn-Reisekette - weil die entsprechenden Vorrichtungen wie Blindenleitsysteme oder Induktionsschleifen nicht überall verfügbar sind. Auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen stoßen auf Barrieren.
Seit vielen Jahren ist die Barrierefreiheit bei der Deutschen Bahn, aber auch bei anderen Unternehmen, ein wichtiges Thema, das immer wieder für Diskussionsstoff sorgt und auch die Gemüter erhitzt. Dabei ging und geht es auch immer wieder um die Frage, wie weit der Begriff der Barrierefreiheit und der angemessenen Vorkehrungen eigentlich reicht.
Das vorliegende Gutachten beschreibt ohne viel Raum für Interpretationen nach seinem Verständnis die Versäumnisse der letzten Jahre. Es arbeitet die rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen aus UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), Antidiskriminierungsgesetz (AGG) und europarechtlichen Vorgaben klar heraus: Der Bund - als Eigentümer der Deutschen Bahn AG - muss danach in noch stärkerem Umfang dafür sorgen, dass gesetzliche Vorgaben umgesetzt werden. Das Eisenbahn-Bundesamt als zuständige Aufsichtsbehörde muss im Hinblick auf Barrierefreiheit seiner Kontrollfunktion stärker nachkommen - auch mit Blick auf die privaten Anbieter. Menschen mit Behinderungen müssen viel stärker als bisher an der Entwicklung von Programmen zur Barrierefreiheit beteiligt sein, gemäß dem Motto der UN-BRK: Nichts über uns ohne uns.
Ich bin davon überzeugt, dass dieses Gutachten einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird, weitere Barrieren abzubauen und damit der Umsetzung der UN-BRK in Deutschland in Bezug auf die Mobilität ein großes Stück näher zu kommen. Es ist höchste Zeit!
Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre.
Ihr
Jürgen Dusel
Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen
Das vorliegende Rechtsgutachten befasst sich mit der Frage, ob der Bund verpflichtet ist mehr dafür zu tun, dass Menschen mit Behinderungen die Eisenbahnen gleichberechtigt und ohne Benachteiligungen nutzen können. Hierfür setzt es sich auch damit auseinander, wie die Situation für Menschen mit Behinderungen, die die Eisenbahnen heute nutzen, zu bewerten ist.
Die Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) rücken als Anbieter klimaverträglicher Beförderungsmittel zunehmend ins Zentrum der verkehrspolitischen Diskussionen. Aber vielen Menschen, die die Eisenbahnen gerne nutzen würden, wird das durch Barrieren sehr erschwert. In vielen Bahnhöfen können Menschen mit Mobilitätseinschränkungen nicht ohne fremde Hilfe auf den Bahnsteig gelangen. Und wenn sie dort angelangt sind, schaffen sie es vor allem im Fernverkehr nur mit Mühe in den Zug. Rollstuhlfahrenden gelingt der Zugang nur kompliziert und zeitraubend durch den Einsatz mobiler Hublifte. Die Hublifte wiederum erfordern Bedienungspersonal, das an den meisten Bahnhöfen gar nicht oder nur zu bestimmten Zeiten vorhanden ist. Selbst an großen Bahnhöfen erhalten Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer nur in Ausnahmefällen während der gesamten Bahnbetriebszeit die erforderliche Unterstützung. Die Regel ist, dass sie vor sechs Uhr morgens und nach 22 Uhr weder einen Zug betreten noch ihn verlassen können. Wer als Rollstuhlfahrerin oder Rollstuhlfahrer mit dem ersten ICE Bremen morgens verlassen will, um vor neun Uhr in Berlin einen Termin wahrnehmen zu können, hat Pech gehabt.
Aber auch Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen oder kognitiven Einschränkungen stoßen auf Barrieren, wenn sie mit der Eisenbahn fahren wollen. Schon die Anforderung, Bahnreisende nicht nur über Lautsprecher zu informieren, wird nicht in allen Zügen und Bahnhöfen erfüllt. So erfahren Menschen, die schlecht oder gar nicht hören oder die Informationen nicht gut verstehen, wenn sie nur gesprochen werden, oft nicht, welche Züge Verspätungen haben und ob Anschlussverbindungen erreicht werden können. Menschen, die schlecht oder gar nicht sehen können, oder die aus anderen Gründen Orientierungsprobleme haben, finden an vielen Orten keine Wagenstandsinformationen. Sie erfahren auch nicht zuverlässig und überall rechtzeitig, dass ein Zug aus einem anderen Gleis abfährt oder bestimmte Waggons nicht mit sich führt. Damit Bahnhöfe von allen benutzt werden können, müssen Aufzüge oder lange Rampen gebaut, integrierte Blindenleitsysteme betrieben und dynamische visuelle und akustische Fahrgastinformationsanlagen eingerichtet bzw. in kleineren Stationen auch dynamische Schriftanzeiger (DSA) mit Akustikmodul eingebaut werden.
Das vorliegende Gutachten wurde in Zusammenhang mit einem Schlichtungsverfahren erstellt. Es konzentriert sich daher auf die dort verhandelten Fragen der Barrierefreiheit und der angemessenen Vorkehrungen für Rollstuhlfahrende. Barrierefreiheit stellt sicher, dass grundsätzlich keine Hindernisse bei der Nutzung der Eisenbahnen für Menschen mit Behinderungen bestehen. Angemessene Vorkehrungen sollen ermöglichen, dass einzelne Menschen mit Behinderungen trotz noch vorhandener Barrieren mit Hilfe von individuellen Unterstützungsmaßnahmen die Eisenbahnen dennoch nutzen können. Die rechtlichen Grundlagen für dieses Recht auf gleichberechtigten Zugang und gleichberechtigte Nutzung finden sich vor allem im Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG), in der UN-Behindertenrechtskonvention sowie in europarechtlichen Vorschriften über Fahrgastrechte und im Allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetz (AGG). Es geht dabei jeweils um alle Menschen mit Beeinträchtigungen. Beeinträchtigungen beim Sehen und Hören und körperliche, psychische oder kognitive Beeinträchtigungen sind insoweit gleichgestellt.
Das Ziel, das die Eisenbahnverkehrsunternehmen erreichen müssen, ist, dass Menschen mit Behinderungen als Passagiere gleichberechtigt sind. Das heißt: Sie haben das Recht, an allen Bahnhöfen, wenn dort Züge ankommen und abfahren, ein-, aus- oder umzusteigen. Sie müssen Bahn fahren können, ohne sich vorher anmelden zu müssen. Wenn sie sich anmelden, muss erst recht zuverlässig sichergestellt sein, dass sie die Züge erreichen können: Entweder, weil die Züge schon barrierefrei sind, oder weil die erforderliche Unterstützung als angemessene Vorkehrung bereitsteht.
Damit das gelingt, sind die Eisenbahnunternehmen verpflichtet, Menschen mit Behinderungen und deren Verbände jederzeit an der Erstellung von Programmen aktiv zu beteiligen, um die Eisenbahnen besser zugänglich zu machen. Auch wenn bereits erstellte Programme oder deren Umsetzung abgeändert werden, haben Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände ein Partizipationsrecht.
In besonderem Maße steht hier auch die Deutsche Bahn AG (DB AG) in der Kritik, die sich von anderen EVUs unterscheidet. Sie steht im alleinigen Eigentum des Bundes. Der Bund hat als Eigentümer der DB AG darauf hinzuwirken, dass die gesetzlichen Anforderungen an die Zugänglichkeit konsequent umgesetzt werden.
Der Bund und insbesondere das BMVI sind als Träger öffentlicher Gewalt nach § 1 Abs. 2 und 3 BGG verpflichtet, sich in erheblichem Maße für die Zugänglichkeit, und insbesondere die Barrierefreiheit bei der Deutschen Bahn AG, aber auch bei anderen EVUs, einzusetzen. Diese Förderpflicht muss das Ziel haben, die Barrierefreiheit der Bahn voranzutreiben. Dabei müssen Fortschritte zeitlich absehbar und überprüfbar sein. Das rechtliche Ziel "Barrierefreiheit" muss nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern in absehbarer Zeit erreicht werden. Wenn allein zur Herstellung von Stufenfreiheit an den Bahnsteigen der als relevant erklärten Bahnhöfe im Nationalen Umsetzungsplan von 2017 ein Zeitraum von 15 Jahren vorgesehen ist, genügt das den Anforderungen nicht. Aus den Förder- und Hinwirkungspflichten ist auch abzuleiten, dass – gerade weil dieser Zeitraum zur Herstellung von Barrierefreiheit außerordentlich lang ist – in der Zwischenzeit ein Zustand hergestellt wird, in dem durch Anwendung angemessener Vorkehrungen den sonst ausgegrenzten Menschen mit Behinderungen und eingeschränkter Mobilität in umfassendem Maße Teilhabe durch Mobilität ermöglicht wird. Wenn diese Unterstützung nicht gewährt wird und Menschen mit Behinderungen weiterhin die Eisenbahnen nur in sehr eingeschränktem Maße nutzen können, ist das eine gesetzlich verbotene Benachteiligung.
Die Förderpflicht des Bundes kann beispielsweise durch zielgerichtete Förderprogramme umgesetzt werden, aber auch durch konkrete Anweisungen an das Eisenbahnbundesamt (EBA) als Aufsichtsbehörde für die Eisenbahnen, die Aufsicht entsprechend wahrzunehmen.
Auch das Eisenbahn-Bundesamt muss als Aufsichtsbehörde stärker, als es bisher erkennbar ist, kontrollieren, dass die Fahrgastrechte durch die EVUs umgesetzt werden, um in absehbarer Zeit einen barrierefreien Schienenverkehr für alle zu erreichen, und bis dahin eine deutlich verbesserte Nutzungsmöglichkeit der Eisenbahnen für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen.
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